Blog #6: Hässlich
Nach einer Kurzgeschichte von Jan Grue. Aus dem Norwegischen nacherzählt von Anna Pia Jordan-Bertinelli.
„Bin ich hässlich?“, fragte Eyolf und sah mich mit seinen kleinen, stechenden Augen an.
Eyolf hatte die Angewohnheit, mir solche intimen und schwierigen Fragen auf eine Art zu stellen, die die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse auf mich lenkte und es mir unmöglich machte, nicht zu antworten.

Vor zwei Jahren standen zum Beispiel größtenteils naturwissenschaftliche Fragen auf dem Lehrplan. Und zwar die wirklich großen Fragen. Ist das Universum unendlich? Wächst es? Wird es sich immer weiter ausdehnen? Solche Fragen sind bestimmt dazu gedacht, die Kinder zu kleinen Philosophinnen und Philosophen zu erziehen. Aber was die Lehrplanmacher dabei vergessen, ist, dass alle philosophischen Fragen auch eine existentielle Dimension haben. Und so fragte mich Eyolf damals, was denn der Sinn des Ganzen sei. Also der Sinn darin, in einem Universum zu leben, das sich immer weiter und weiter ausdehnt. Wie eine Suppe, die immer dünner und dünner wird, sodass jeder von uns früher oder später denselben Umfang haben würde wie die Finnmarksvidda. Und ich antwortete, dass er nicht davon ausgehen brauche, dass das Ganze einen Sinn ergebe.
Ich bekam natürlich eine Verwarnung von der Schulleitung, aber die Kinder konnten mich seitdem besser leiden. Sie hatten verstanden, dass ich ihnen eine Wahrheit anvertraut hatte, die die meisten Erwachsenen zu vertuschen versuchten. Ich selbst fühlte mich auf der sicheren Seite. Man kann schließlich keine Lehrpläne machen, die sich mit den großen Fragen des Lebens beschäftigen und den Lehrern dann verbieten, sie nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten.
Eyolfs Frage kam nicht von ungefähr. Unglücklicherweise hatte sich der Lehrplan weg von den Naturwissenschaften und hin zu Anthropologie und Gesellschaftswissenschaften bewegt, und wir hatten unter anderem diskutiert, warum und auf welche Weise Menschen unterschiedlich aussehen. „Die meisten von uns werden sich darauf einigen können, wer schön und wer hässlich ist“, hatte ich behauptet.
Ich betrachte alle meine Schüler eingehend, und weil ich das tue, kann ich mit großer Gewissheit sagen, dass im Durchschnitt ein Viertel einer gewöhnlichen Schulklasse mehr oder weniger hässlich ist. Und die Kinder wissen es selbst. Sie wissen genau, wer gut aussieht und wer nicht. Es sagt ihnen nur niemand offen und ehrlich.
Bei manchen Kindern wächst sich die Hässlichkeit mit den Jahren heraus. Aber nicht bei Eyolf. Sein Aussehen würde mit den Jahren nur noch schlimmer werden. Früher hätte man ihn vermutlich ein Wechselbalg geschimpft, und wenn man ihn so ansah, verstand man wirklich gut, warum.
Eyolf war ein klumpiger Junge mit dem Blick eines alten Mannes der sauer roch und, – es lässt sich leider nicht wohlwollend formulieren – einfach unangenehm war. Er hatte einen außergewöhnlich tiefen Haaransatz, der nur knapp über den Augenbrauen begann, und seine Stupsnase hätte vielleicht bei einer jungen Frau schön aussehen können, aber nicht bei einem dicken kleinen Jungen. Beides würde sich nicht nennenswert auswachsen. Natürlich würde der Haaransatz mit dem Alter weiter nach hinten wandern, aber Eyolf war niemand, der dadurch mehr Stirn bekäme. Er würde ungleichgroße Geheimratsecken bekommen und in der Mitte würde ein fettiges Haarbüschel übrigbleiben.
Von den über hundert Kindern, mit denen ich in den letzten Jahren regelmäßig zu tun hatte, war Eyolf mit gutem Abstand der Hässlichste. Und vielleicht hatte ich gerade deshalb eine gewisse Sympathie für ihn entwickelt.
„Lass mich kurz nachdenken“, antwortete ich.
Es ist nicht gerecht, dass schöne Menschen es im Leben einfacher haben, aber es ist so. Das wissen wir alle. Wenn man gut aussieht, laufen die Bewerbungsgespräche besser, man hat mehr Sex und bekommt aromatischeren Kaffee serviert. So einfach ist das. Es gibt sogar Forschung, die das belegt. Schöne Menschen sind meist zufriedener mit ihrem Leben als Hässliche, und sie haben allen Grund dazu. Ich konnte also Eyolf nicht sagen, dass ‚alles gut werden würde‘, denn das stimmte einfach nicht.
Schon bevor er die Frage stellte, hatte ich angefangen, mir Gedanken über Eyolfs Zukunft zu machen und mir die Frage gestellt, wie zufrieden er in seinem Leben würde werden können. Meiner Meinung nach hatte er, alle Faktoren in Betracht gezogen, keine besonders guten Aussichten. Daran war nicht nur sein Aussehen schuld. Er war von Anfang an ein trotziges Kind und ein ziemlicher Jammerlappen. Was ich verstehe, man reagiert schließlich auf seine Umgebung so, wie sie auf einen reagiert. Und die Umwelt reagierte nicht besonders gut auf Eyolf. Ich brauche wohl kaum auszuführen, dass er von den anderen Kindern nicht nur gemieden, sondern regelrecht abgestoßen wurde. Kinder haben kein Problem damit, mit dem Finger auf diejenigen zu zeigen, die nicht dazu passen.
Also war ich mit meinen Überlegungen zu folgendem Ergebnis gelangt: Es würde in Zukunft nicht besser werden für Eyolf. Ich wusste nicht, ob er in ein paar Jahren fürchterlich gemobbt werden würde, aber eigentlich war es nur eine Frage der Zeit. Nicht, weil das an unserer Schule gang und gäbe gewesen wäre, das war es nicht. Wir hatten keine größeren Probleme, nichts, was über das gewöhnliche Maß hinausging. Es würden also vermutlich Kleinigkeiten sein, Milch in der Sporttasche, ab und zu ein bisschen Prügel, ein paar Sticheleien im Internet. Nichts Großes.
Vieles würde sich dadurch entscheiden, wie Eyolfs Körper sich entwickeln würde. Im Moment war er eher pummelig. Entweder würde er noch weiter aufgehen, oder er würde anfangen zu trainieren. „Zu pumpen“, wie man heute sagt. Er würde also entweder hässlich und schwach, oder hässlich und stark sein.
Das lässt natürlich die Frage aufkommen, welcher Version von Eyolf man in fünfzehn Jahren lieber begegnen würde. Einen starken Eyolf würde man wahrscheinlich vor der Tür eines Clubs auf der Karl Johan wiederfinden – im besten Fall. Kein Job, der besonders glücklich macht. Türsteher und Sicherheitspersonal im Allgemeinen haben zwar viel Macht, bekommen aber wenig Respekt und noch weniger Zuneigung entgegengebracht. Hässlich und schwach zu sein, wäre aber auch keine gute Lösung. So würde er vermutlich alleine vor dem Computer enden. Aber in diesem Fall wäre immerhin das Risiko geringer, ein Gewaltverbrechen zu begehen. Und das ist entscheidend.
Beide Szenarien lassen nicht sonderlich viel Raum für Verbesserung. Das einzige, was helfen kann, ist Wissen. Für Eyolf, dachte ich also, gilt es zu wissen, wo er in der Welt steht. Genau zu wissen, wo er steht, und wie hässlich er ist. Das wäre dann eine Art Wettbewerbsvorteil, und mein Ziel war es schon immer, allen Kindern zu helfen, möglichst gut ins Leben zu starten.
„Hör gut zu, Eyolf,“, begann ich. „Es ist eigentlich nicht so, dass Kinder, objektiv gesehen, hässlich sind. Niemand kommt auf die Welt und ist von sich aus hässlich. Dazu bedarf es immer eines sehenden Auges. Stell dir vor, es gäbe eine riesige Atomkatastrophe, oder ein tödliches Virus würde die gesamte Menschheit befallen, oder das jüngste Gericht, von dem diese ultrareligiösen Spinner reden, käme tatsächlich über uns. Und jetzt stell dir vor, es gäbe danach nur noch ein einziges Kind auf der Welt. Dich, oder Terje, oder Johanne. Der- oder diejenige von euch, die übrig bliebe, wäre weder schön noch hässlich.“
Ich bemühte mich, die anderen Kinder mit einzubeziehen, aber eigentlich waren meine Worte nur an Eyolf gerichtet.
„Die meisten großen Philosophen ab 1600 haben sich mit diesem Thema beschäftigt. Wir werden zu Menschen durch die Art, in der wir uns gegenseitig betrachten. Das nennt man Humanismus. Soweit die Theorie. Praktisch gesehen gibt es allerdings recht eindeutige Kriterien dafür, was wir als schön und oder hässlich empfinden. Das ist eigentlich logisch, so rein evolutionsmäßig gesehen. Wir mögen symmetrische Gesichtszüge und große Augen. Außerdem mögen wir Männer, die kräftige Kiefer und Muskeln haben, also bisschen wie Rottweiler aussehen, und wir mögen Frauen, deren Hüfte breiter ist als ihre Taille.“
Hier musste ich mich zurückhalten. Nicht nur fing ich an, zu viele Fremdwörter zu benutzen, sondern ich berührte auch Themen, die mit Sexualkunde zusammenhingen, und das war laut Lehrplan ein striktes Tabuthema.
„Wir haben also eine Vorstellung davon, was als schön gilt, sowohl für Erwachsene als auch für Kinder. Und jetzt nehmen wir einen Säugling und stellen zunächst einmal fest, dass nicht alle Säuglinge gleich aussehen. Selbst, wenn manchmal so getan wird, als ob. Und wenn wir also feststellen können, dass bereits Säuglinge unterschiedlich aussehen, ist es nur logisch, dass manche schön und manche hässlich sind.“
Die Kinder saßen stumm auf ihren Stühlen und glotzen mich an. Ich muss gestehen, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen hatte, die Kontrolle über meine Argumentation zu verlieren.
„Fragt jemanden, irgendjemanden: Gibt es hässliche Säuglinge? Und ihr werden sofort wissen, ob die Person ehrlich zu euch ist oder nicht. Ich habe viele Kinder gesehen, ich bin schon seit vierunddreißig Jahren Lehrer. Die meisten von euch sind total durchschnittlich. Ich verstehe etwas von der Welt, was auch heißt, dass ich etwas von Menschen verstehe. Wenn man so lange in der Schule gewesen ist wie ich, wird man zwangsläufig zum Realisten, weil man sieht, dass es nicht mit allen Leuten gut ausgeht. Das wissen alle, aber niemand denkt gerne darüber nach. Vielleicht geht es ja doch gut, denken wir, wenn der ein oder die andere von euch das letzte Mal das Schulgebäude verlässt. Aber eigentlich wissen wir, dass es nicht immer gut geht. Bei manchen von euch ja, aber nicht bei allen.
Wenn man die grundlegenden Dinge über ein Kind weiß, nämlich ob es klug oder dumm, hübsch oder hässlich, arm oder reich ist, weiß man ungefähr, wie sein Leben verlaufen wird. Manche haben vielleicht nicht die Charakterstärke oder den Mut, das zu sehen. Aber alle, die es wollen, können auf diese Weise in die Zukunft schauen. Und wenn sie nicht darüber sprechen, dann ist das nur ihrer Feigheit geschuldet.“
Die Stunde war zu diesem Zeitpunkt schon längst vorbei, aber es schien, als ob die Kinder jegliches Zeitgefühl verloren hatten.
„Eine gute Ausbildung besteht nicht zu allererst darin, Hauptstädte auswendig zu lernen und sich grundlegende Computerkenntnisse anzueignen, selbst wenn die Bürokratie uns das glauben machen will. Eine gute Ausbildung stärkt vor allem die Selbsteinsicht. Diejenigen, die sich selbst verstehen, die die Welt verstehen und wissen, welchen Platz sie in ihr einnehmen, haben immer bessere Chancen als die anderen. Das ist eigentlich nicht sonderlich überraschend, aber ich habe lange gebraucht, bis ich es komplett verstanden habe. Und es betrifft auch euch.“
Ich kam langsam zu meinem eigentlichen Punkt zurück und sah Eyolf an, um sicherzugehen, dass er mir zuhörte.
„Wenn wir über hässliche und schöne Kinder sprechen, sprechen wir im Wesentlichen über zwei biovisuelle Phänomene: Neotenie und Symmetrie. Neotenie beschreibt das, was wir auch Kindchenschema nennen. Das heißt, dass wir Dinge anziehend finden, die klein und süß sind, einen großen Kopf und noch größere Augen haben. Symmetrie wiederum ist in erster Linie ein Indikator für gute Gesundheit, weil dadurch gezeigt wird, dass all unsere Körperteile gleichermaßen gut entwickelt sind. Diese Phänomene gelten kulturübergreifend. Schaut euch irgendeinen Zeichentrickfilm an, am besten einen, der auf der ganzen Welt erfolgreich ist. Alle Figuren in diesen Zeichentrickfilmen haben nicht nur komplett symmetrische Züge, sondern auch große Augen und einen überdimensionierten Kopf. Das ist kein Zufall. Das sind Schemata, die in jeder menschlichen Kultur, ja, sogar im Tierreich greifen.
Und das ist mein nächster Punkt. Wenn ein Kind genuin hässlich ist, dann ist das nicht so, weil ich das finde. Es ist nicht mein individuelles ästhetisches Empfinden, um das es dabei geht. Es ist ein Schema, das nichts mit individuellen Meinungen zu tun hat. Es ist intersubjektives Gefühl, über das wir hier sprechen. Und intersubjektiv gesehen, Eyolf, bist du sehr, sehr hässlich.“
So etwas sagt man einem Kind nicht. „Man“. Das ist ein Scheinargument. Wer soll dieser „man“ sein? Die ganze Welt sagt Kindern tagtäglich, dass sie schön oder hässlich sind, in dem sie die Schönen besser behandelt als die Hässlichen. Das wissen alle. Aber man sagt es nicht, nicht auf diese Art. Stattdessen zieht man es vor zu lügen und zu sagen, dass im Inneren alle schön sind, weil man sich dadurch eine unangenehme Verantwortung erspart.
Die meisten meiner Kollegen haben nach ihrem letzten Examen aufgehört, sich fachlich weiterzuentwickeln. Fortbildungsangebote prallen an ihnen ab. Das ist unfassbar schade. Die Welt ist voller fantastischer Sachen, die man lernen kann. Das habe ich immer versucht, meinen Schülern zu vermitteln. Es ist wichtig, am Ball zu bleiben. Koste es, was es wolle.
(Nach Jan Grue: Stygg. Erschienen in: Jan Grue. Kropp og Sinn. Noveller. Gyldendal 2012, S. 39-50.)