Blog #22: Wer hat hier das Sagen? Teil 1

Von Philipp Bo Franke

Das 3-teilige Dossier der KLiteratur #6 schaut darauf, wie und warum noch immer eine Metadebatte um Debattenkultur selbst geführt wird und stellt dabei kopfschüttlend fest, dass sich in den Diskussionen um Identitätspolitik, Socialmedia und Cancelculture ein paar sehr fragwürdige Argumente sehr hartnäckig halten.

Der erste Teil fragt, wieso in deutschen Feuilletons und zu allen möglichen Anlässen über die Debattenkultur selbst diskutiert wird, obwohl es ursprünglich mal Rassismus und Sexismus ging und ob diese Diskursverschiebung am Ende Meinungsfreiheit mit Meinungshoheit verwechselt?

Bewegungen wie #metoo, #blacklivesmatter, #saytheirnames und die damit in Verbindung stehenden Ereignisse haben in den letzten Jahren längst überfällige Debatten über Rassismus und Sexismus in den Fokus der Gesellschaft gerückt. Zentrale Fragen der Debatten waren, wie weit Sexismus und Rassismus in der deutschen Gesellschaft verankert sind und warum. Das Ziel: Über Rassismus und Sexismus aufzuklären um diskriminierende Einstellungen und Praktiken abzubauen. Soweit zur inhaltlichen Verschiebung des Diskurses.

Gleichzeitig läuft eine formale bzw. eine mediale Verschiebung der öffentlichen Debatten. Ein Großteil der Diskussionen spielt sich vor allem im Netz ab. Zeitungen und Fernsehen haben ihre Probleme damit, der Dynamik von Twitter, Instagram und Co. hinterher zu kommen. Unabhängig davon, wie sich Öffentlichkeit durch Socialmedia verschiebt, lässt sich festhalten, dass heute viel mehr Menschen die Möglichkeit offen steht, auf die öffentliche Debatte Einfluss zu nehmen. Viel mehr können mitdiskutieren und viel mehr diskutieren mit. Beide Verschiebungen sind eng miteinander verschränkt. Nils Markwardt schreibt im Philosophie Magazin (Nr. 3/21) in diesem Zusammenhang, dass diese mediale Verschiebung den unumkehrbaren Fakt der gesellschaftlichen Pluralisierung sichtbar macht. Denkt man diesen Ansatz weiter, lässt sich vielleicht sogar von einer Demokratisierung des öffentlichen Diskurses sprechen.

Schaut man sich im medialen Raum um, kommen diese Verschiebungen anders weg. Statt Pluralisierung und Offenheit der Debatte, wird der Debattenkultur oftmals eine handfeste Krise attestiert. Es geht dann gerne um die “Grenzen des Sagbaren” und darum, wie öffentlich überhaupt diskutiert werden soll. Dabei wird vor Cancelculture und Identitätspolitik gewarnt, manche sehen Kunst- und Wissenschaftsfreiheit bedroht, andere befürchten eine Verhärtung von ‘Fronten’ bis zur Spaltung der Gesellschaft. Grob zusammengefasst klingen viele Reaktionen so: Äußere man sich zu bestimmten Themen, allen voran Rassismus und Sexismus, nicht Mainstream-konform, würde man unmittelbar als Rassist*in / Sexist*in an den Pranger gestellt, von einem linken oder ‘woken’ Meinungsmob mit übertriebener political correctness und shitstorms gestraft oder im schlimmsten Fall gecancelt. Ein Musterbeispiel dieser Reaktion aus Sorgen und Appellen bot Wolfgang Thierse Ende Februar:

[D]ie Identitätspolitik von links führt, wenn sie weiter so einseitig und in dieser Radikalität betrieben wird, zu Cancelculture. Das heißt, man will sich nicht mehr mit Leuten auseinandersetzen, diskutieren, den Diskurs führen, die Ansichten haben, die einem nicht passen. Das ist ziemlich demokratiefremd und, wenn ich das sagen darf,
demokratiefeindlich. Eine pluralistische Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn in ihr die Unterschiedlichkeiten zu Wort kommen, artikuliert werden, im Gespräch miteinander sind.

Wolfgang Thierse (SPD) im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur (25.02.2021)

Thierse steht mit dieser Position nicht alleine, ganz im Gegenteil. Viele Debattenteilnehmer*innen versuchen sich an der Rettung des Diskurses und fordern zivilisiertes Streiten, mehr Ambiguitätstoleranz, Konzentration auf sachliche Argumente und inhaltlich geführte Debatten. Oder es klingt wie bei Monika Grütters (Kulturstaatsministerin), die den rauen Ton im Netz kritisiert:

Zivilisierte Verachtung muss erstens auf verantwortungsvoller Meinungsbildung, auf der Auseinandersetzung mit relevanten Fakten und Argumenten beruhen. Zweitens muss der Respekt vor der Würde und den grundlegenden Rechten des Gegenübers gewahrt bleiben. Die Fähigkeit, Positionen auf zivilisierte Weise zu kritisieren oder auch zu verurteilen, ist ein unverzichtbarer Bestandteil jedes Streitgesprächs und damit Voraussetzung für die Verständigungsfähigkeit einer Gesellschaft.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU): Rede bei der Klassik Stiftung Weimar (05.02.2020)

Betrachtet man diese Art von Kritik für sich, ist vieles davon berechtigt. Natürlich sind Shitstorms, Beleidigungen und Ad-hominem-Argumente (Kritik, die sich nur auf die Person bezieht und nicht auf die evtl. kritikwürdigen Aussagen) keine konstruktiven Debattenbeiträge. Für eine sinnvolle Diskussion ist es selten förderlich, Personen per se als Rassist*in / Sexist*in zu labeln, wenn sie sich beispielsweise unbedacht geäußert haben, noch wenig Sinn für diskriminierungssensible Sprache aufweisen, kein scharfen Blick für die Alltagsformen von rassistischen / sexistischen Diskriminierungen haben oder einfach kontroverse Ansichten vertreten. Und es ist auch klar, dass Kritik im und aus dem Netz gerne unverhältnismäßig heftig ausfällt, Urteile vorschnell oder pauschal fallen. All das lässt sich kritisieren. Doch ist es auf der anderen Seite genauso zu kurz gedacht, pauschal von Cancelculture und von Gefahr für die Meinungsfreiheit zu sprechen.

Was die Rede von der Krise der Debattenkultur übersieht:

Erstens zeigt die Versteifung auf den Ton der Debatte ein teilweise fehlendes Verständnis für die Dynamik der digitalen Öffentlichkeit. Wer ernsthaft an guten Argumenten interessiert ist, sollte sie nicht in Socialmedia-Debatten suchen. Im Netz gilt Like oder Dislike, Daumen hoch oder runter, ein Herz oder keins, fass dich kurz und möglichst so, dass Du viel Aufmerksam bekommst, lautet die Devise. Man kann diese Dynamik durchaus kritisieren, das ist aber ein anderes Thema (dieses Thema arbeitet Schlecky Silberstein in seinem Buch ‘Das Internet muss weg’ auf und noch deutlicher analysiert das James Bridle in ‘new dark age’).

Sammelt sich im Netz sehr schnell sehr viel Kritik, kann man diese aber zum Anlass nehmen, sich damit auseinander zu setzen, was diese Kritik auslöst – denn in den allermeisten Fällen finden sich inhaltliche Gründe am Anfang jeder Empörungswelle und eine Auseinandersetzung damit kann sich durchaus lohnen.

Zweitens gibt es einen Unterschied zwischen privatem und öffentlichem Sprechen. Im Netz sind die Teilnehmer*innen zwar nahbarer, die Ansprache direkter und wer sich locker gibt, wirkt authentisch. Wie es scheint, verfallen dabei aber manche dem Gefühl, die digitale Öffentlichkeit wäre das eigene Wohnzimmer, was zur Folge hat, dass teilweise nicht so genau nachgedacht wird, was man da postet und ob es das wert ist, öffentlich mitgeteilt zu werden. ‘Erst denken, dann posten’ ist ein alter Hut und sollten alle mittlerweile gelernt haben. Dass Authentizität nicht vor Bullshit-Aussagen schützt und man ganz ehrlich sein und dabei den größten Schwachsinn loslassen kann, müssen manche vielleicht noch lernen.

Die Heftigkeit, mit der die Kritik aus dem Netz eine Person treffen kann ist zwar oft unverhältnismäßig, aber womöglich kann das auch den unterschiedlichen Maßstab, der für öffentliches und privates Sprechen gilt, wieder in den Blick rücken. Aus Vorsicht vor den möglichen Reaktionen könnte sich das generelle Niveau der Äußerungen im Netz wieder anheben. Es soll keine Angst bestehen, sich öffentlich zu äußern – andersherum muss es auch kein Freifahrtschein dafür geben, alles raus zu lassen, nur weil man einen Instagram- oder Twitteraccount bedienen kann, insbesondere dann nicht, wenn man wenig Ahnung von dem Thema hat, zu dem man sich äußert.

Drittens kommt man den eigenen Forderungen nach inhaltlichen Argumenten und sachlichen Diskursen nicht nach, wenn man ausschließlich den Ton der Debatte kritisiert und mit Schlagwörtern wie Cancelculture, Identitätspolitik, Political Correctness und Zensur um sich wirft und damit alle eigentlichen Argumente umgeht. Nils Markwardt stellt der Angst um Meinungsfreiheit und vor Cancelculture die These gegenüber, dass es dabei auch um die Sicherung einer bestimmten Form kultureller Resthegemonie gehe.

Wollte man nämlich tatsächlich über systematische Formen der Ausgrenzung sprechen, müsste man auch und vor allem über jene Anfeindungen, Verächtlichmachungen, Nachstellungen, Hatespeech und Drohungen reden, die für Frauen, Migranten oder Minderheiten oft an der digitalen Tagesordnung sind. Man müsste […] auch darüber [reden], wer überhaupt nicht zu Diskussionen eingeladen wird.

Nils Markwardt, Der Medien-Mythos, Philosophie Magazin Nr. 3/21

Geht es also in Wirklichkeit nicht um Meinungsfreiheit, sondern um Meinungshoheit?

Diese These greifen wir auf und stellen ihr die Beobachtung zur Seite, dass die gegenwärtige Rede von der Krise der Debattenkultur den Fokus von den ursprünglichen Fragen nach Rassismus und Sexismus in Deutschland weggeschoben hat. Aus dem eigentlichen WAS wurde eine Diskussion um das WIE. Rhetorisch gesehen ist das ein klassisches Ausweichmanöver.

Es ist eines der Lieblingsspiele in Feuilleton und Netz: der Metadiskurs zur Abwehr des Diskurses. Wer darf was wie über wen sagen und warum – so geht dieses Spiel. Die wichtigste Spielregel besteht darin, dass das, worum es eigentlich geht, ausgespart bleiben muss. Denn erst, wenn man sich nur noch um das „Wie“ kümmert und nicht mehr um das „Was“, ist die Zirkusarena frei für die Wortgefechte, sei es mit der Keule oder mit dem Florett. Es ist ein Spiel, das nichts kostet und bei dem jeder mitmachen kann: Gewonnen hat, wer seine moralische Überlegenheit am virtuosesten durch die Kommentarspalten wirbelt. Je ernster die Sache ist, desto abgehobener wird der Diskurs, der von ihr ablenken soll

Sieglinde Geisel im Deutschlandfunk Kultur (23.12.2019)

Teil 2 des Dossiers fragt, weshalb manche sagen, dass Schwarze Autor*innen nur noch von Schwarzen Übersetzer*innen übersetzt werden dürften oder könnten.

Teil 3 fragt, warum dem Schweizer Finanzminister schlecht wird, wenn er an die Einhaltung der Menschenrechte denkt.

Das gesamte Dossier gibt’s illustriert mit Cartoons und einem Comic von Samy Challah im Heft.

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