Blog #27: Wenn nicht mit Empathie, dann wenigstens mit Logik
Von Philipp-Bo Franke
Pandemie, Menschen auf der Flucht und der Krieg in der Ukraine: Solidarität überall! Überall? Nein! Ein kleines Problem leistet dabei Widerstand und zeigt der Solidarität ihre scheinbaren Grenzen auf. Zumindest wenn man das theoretische Konzept von Solidarität an ihrer praktischen Umsetzung misst. Ein Essay über menschliches Unvermögen …

Ich bin kein Freund von Sätzen, die Formulierungen wie „der Mensch an sich ist / die Menschen sind /“ beinhalten. Ich halte grundlegende und notwendige Aussagen darüber, wie ‚der Mensch‘ ist für falsch und gefährlich.
Für falsch, weil sich solche Annahmen über das Wesen des Menschlichen immer an den historischen Umständen orientieren und auf den später folgenden Interpretationen dessen beruhen. Da diese dynamisch sind, sind solche Behauptungen zwar temporär gültige Beobachtungen oder Beschreibungen. Aus solchen lässt sich aber keine Notwendigkeiten ableiten.1 Und für gefährlich halte ich Annahmen wie „der Mensch ist des Menschen Wolf“,2 weil sie am Ende zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden können. Das heißt, weil Menschen davon ausgehen, handeln sie auch danach. Und es kann durchaus Schaden in Köpfen und der Welt anrichten, wenn man davon ausgeht, die Menschen seien per se gegen andere Menschen eingestellt. Was hat das mit dem Krieg in der Ukraine zu tun?
Die deutschen und europäischen Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine zeigen, dass es etwas im Menschlichen gibt, das wie eine solche Grundkonstante aussieht. Ich rede von der offensichtlichen Begrenztheit des menschlichen Empathievermögens. Das mag angesichts der gegenwärtigen Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine kontraintuitiv erscheinen, erklärt sich aber durch drei nebeneinander gestellte Beobachtungen über die jüngste Geschichte von Empathie und Solidarität.
1. Solidarität in der Pandemie: das Unwort des Jahres
Das geflügelte Wort der Pandemie lautete ‚Solidarität‘. Solidarisch sein bedeutet: ‘füreinander einstehend, miteinander eng verbunden’. Sich mit jemandem solidarisieren: ‚für jmdn. eintreten, sich mit jmdm. zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen und Ziele verbünden’. Und Solidarität meint demnach: ‘Zusammengehörigkeitsgefühl, Verbundenheit, gegenseitige Hilfsbereitschaft’.3
In der Pandemie wurde diese Solidarität allseitig beschworen. Sie wurde eingefordert, gelobt, sich auf ihr ausgeruht, damit Maßnahmen und Meinungen gerechtfertigt, in ihrem Namen ausgeschlossen, verunglimpft, Druck aufgebaut. Auf einmal ging es hierzulande sehr vielen darum, solidarisch zu sein und sich solidarisch zu zeigen.Eigentlich schön, wenn eine Gesellschaft ihr Interesse an Solidarität und deren Wert entdeckt.
Traurig dagegen ist, dass an den pandemiebedingten Solidaritätsbeschwörungen sichtbar wurde, wie sehr das Interesse an Verbundenheit und Hilfsbereitschaft an die eigene Situation gebunden ist. Solidarität? Unbedingt! Es könnte ja Leute treffen, die einem nahe stehen, am Ende einen sogar selbst.4 Und so wurde ‚Solidarität‘ nicht mehr nur von Linken, sondern von allen großgeschrieben und gefordert. Der Umgang der Gesellschaft mit ‚Solidarität‘ wirkte wie der Umgang mit einer scheinbaren Newcomerin, die eigentlich schon seit 40 Jahren gute Musik macht, aber von der Popkultur gerne ignoriert wurde. Wie ein Song, den alle plötzlich und für eine Saison feiern, obwohl es ein absoluter Evergreen ist. Auf einmal waren alle Solidaritätsfans. Solidarisch handeln kostete ja auch gar nichts. Als Argument verwendet hatte sie einen dadurch scheinheiligen Beigeschmack bekommen.
Was die Pandemie damit gezeigt hat, ist nicht neu. Aber die traurige Einschränkung der Solidarität wurde in den letzten beiden Jahren wieder sehr deutlich: Sie wird umso mehr gefordert, je mehr man selbst drauf angewiesen ist (weswegen es kein Konzept für Reiche ist). Bundesweite Spaziergänge gegen eine Impfpflicht gabs genug. Bundesweite Demos für die Aussetzung der Patente auf die Covid-Impfstoffe habe ich vermisst. Lieber hier alle 3 Monate boostern, als die überschüssigen Dosen in afrikanischen Länder zu verimpfen. Die Aushöhlung ihres Kerns, die deutlichen Grenzen ihrer Reichweite sind das, was mir die ‚Solidarität‘ zum Unwort der letzten zwei Jahre gemacht hat.
2. Die kurze Reichweite der Empathie
Unter den Rufen nach Solidarität mit den Risikogruppen (die berechtigt sind), wurden die Rufe nach Solidarität mit denen, die außerhalb Deutschlands zu Risikogruppen gehören, weil sie bspw. in Ländern wie Syrien, Afghanistan, Mali, als Uiguren in China, etc. leben, leiser. Es gab sie weiterhin, keine Frage. Aber es war schwer für sie, noch Gehör zu finden. Lieber wurde sich hier darüber gestritten, wie gut oder schlecht Schauspieler*innen Satire beherrschen.
Bitte nicht falsch verstehen: Ich will das eine Unglück nicht gegen das andere ausspielen oder den Schutz der Risikogruppen in Frage stellen. Ich will nur zeigen, dass gleiche theoretische Konzept – das der Solidarität – praktisch ganz anders ausfallen kann. Denn im Vergleich scheint es, als ob die Hilfsbereitschaft an geographische Grenzen oder Ethnien geknüpft ist. Dass sie nicht übers Mittelmeer reicht und in der Pandemie kaum über die Grenzen Deutschlands hinaus.
Fakt ist: Wir solidarisieren uns leichter mit Menschen, die uns regional oder emotional näher stehen. Das ist wissenschaftlich auch nicht neu und neurologisch erklärbar.5 Es lässt mich aber daran zweifeln, ob dieser Umstand nicht doch eine traurige Grundkonstante im Menschlichen ist. Der Mensch kann seine Empathiefähigkeit eben nicht einmal um den Globus spannen. Wenn das nicht auf emotionaler Ebene möglich ist (was nicht heißt, dass man aufhören sollte, es zu versuchen), dann hoffe ich, dass dies wenigstens auf rationaler Ebene möglich ist.
3. Wenn nicht mit Empathie, dann wenigstens mit Logik
Von Seiten der EU und der deutschen Politik heißt es, man werde alle vor dem Krieg in der Ukraine flüchtenden Menschen in Europa aufnehmen. Viele Menschen zeigen sich aktuell solidarisch mit der Ukraine. Das ist gut notwendig. Ich bin vollkommen dafür, allen ukrainischen Schutzbedürftigen Zuflucht zu geben und sich mit der Ukraine nicht nur solidarisch zu zeigen, sondern auch zu handeln. Wie es aussieht werden politisch und gesellschaftlich hier ein paar richtige richtigen Schlüsse gezogen. Aber gerade im Vergleich zu Afghanistan oder Syrien wird deutlich, dass die Empathiefähigkeit und die Bereitschaft zu solidarischem Handeln eine Kilometergrenze hat:
Es ist das gleiche Deutschland, es gibt die gleiche Ursache für Flucht (Krieg), aber die Einen will man bedingungslos aufnehmen, bei den Anderen bleibt die Lage angeblich kompliziert. Das ist zwar traurigerweise verständlich, eben weil die Ukraine viel näher liegt, aber es ist schlicht unlogisch, den Menschen, die vor anderen Kriegen nach Europa flüchten, diese Solidarität und Zuflucht zu verweigern. Es ist das gleiche Deutschland, der gleiche Fluchtgrund (Krieg und Angst ums eigene Überleben) und das gleiche Konzept der Solidarität, mit dem argumentiert wird.
Und gute Argumente gelten in der Logik bekanntlich unabhängig vom Standort und den Umständen. Wenn sie heute für den Krieg in der Ukraine gelten, dann gelten sie auch gestern und morgen und anderswo. Anders herum müsste man sonst fragen: Wie viele Länder und vor allem welche müssen zwischen humanitärer Krise und Deutschland liegen, damit hier der Solidaritätswecker klingelt? Gibt es eine Formel für die Menge der Empathie? Humanitärer Notstand : (Entfernung in Kilometern x kulturelle Unterschiede) = Erwartbare Solidarität?
Ich will die Solidarität gegenüber der Ukraine bzw. ihren Bewohner*innen nicht schmälern. Ich will diese Hilfsbereitschaft und ihre Notwendigkeit nur als Evergreen und nicht als One-Hit-Wonder verstanden wissen und sie auch über die regionale Grenzen hinaus pushen. Auf Grundlage von Logik und in der Hoffnung, dass irgendwann andere Annahmen über ‚den Menschen‘ gemacht werden.
1 Das wäre ein naturalistischer Fehlschluss. D.h., dass aus dem Sein kein Sollen folgt, was bedeutet, dass aus dem, wie etwas ist nicht abgeleitet werden kann, dass es notwendig so sein muss.
2 Wie ihn der Staatstheoretiker Thomas Hobbes im 16. Jhd. geprägt hat.
3 https://www.dwds.de/wb/etymwb/Solidarit%C3%A4t
4 Wenn man bedenkt, wie wie viele der deutschen Politiker*innen bis vor der Wahl wegen ihres Alters selbst zur Riskiogruppe gehörten, kann man die gleiche Tendenz beobachten, nur unter einem anderen Blickwinkel.