Blog #23: Wer hat hier das Sagen? Teil 2

Von Jonas Linnebank

‚Dürfen‘ und ‚Können‘ sind zwei Modalverben, die in Zeitungen und Diskussionsräumen im Moment unangenehm häufig benutzt werden. So geschehen in vielen Feuilletons, die sich mit der Übersetzung eines Gedichts von Amanda Gorman befassen. Die amerikanische Dichterin hatte auf der Vereidigung Joe Bidens den Text „The Hill We Climb“ vorgetragen. Dieser wurde schnell und unhinterfragt in unterschiedliche Sprachen übersetzt. Bei der Übersetzung in Buchform tauchten dann plötzlich die Modalverben auf: „Wer darf das Gedicht ‚The Hill We Climb‘ der schwarzen Poetin Amanda Gorman übersetzen?“ (Catrin Lorch/SZ); „Wer darf Amanda Gorman übersetzen?“ (Florian Coulmas/NZZ).

Wir haben uns gefragt, woher diese Frage kommt. Wer fragt ernsthaft, ob X oder Y Z übersetzen kann oder darf? Geht es tatsächlich um (moralische) Verbote oder (technische) Einschränkungen? Und warum? Was ist passiert? Wir versuchen einen Überblick zu geben, mitten aus der Lamäng heraus…

Beginn der sogenannten Debatte

Am 01.03. schrieb Luc van Doorslaer, Professor für Übersetzung an der Universität Tartu, im belgischen De Standaard eine Replik auf einen Text der Mode- und Literaturbloggerin Janice Deul. Seine Analyse zu ihrem
Text:

„Sobald du Diversität in die Hände eines Aktivisten legst, verflacht sie in etwas Eindimensionales. Schließlich ist es inhärenter Bestandteil von Aktivismus, dass du alles von einer einzigen, alles bestimmenden, ideologischen Perspektive aus betrachtest und beurteilst. Und so […] reduziert Janice Deul die Qualitäten von Gormans Traum-Übersetzerin zu ‚jung, weiblich und: unapologetically black [Schwarz, ohne es rechtfertigen zu müssen.]‘“

Luc van Doorslaer: Na Zwarte Piet, de Witte Vertaler.

Laut van Doorslaer sei das Problem dieses letzten Satzes von Janice Deul, dass ‚The Hill We Climb‘ so zu einem Text wird, der nur noch „eine Dimension, die über Ethnie“ zugeordnet wird, dem alle weiteren Interpretationen untergeordnet werden. Diese Rigorosität führe zu diktatorischen Zuständen:

„Die Sozialen Medien werden oft dafür verantwortlich gemacht, wenn über die Verrohung von Moral oder einer fortschreitenden Polarisierung der Gesellschaft gesprochen wird. Das ist zweifellos korrekt, aber wir sollten nicht die Rolle der Identitätspolitik aus den Augen verlieren. Faschistische und Kommunistische Regime geben dafür viele Beispiele, wie etwa die Eindimensionalität des Sozialistischen Realismus. Heute glauben einige […] dass ein Schwarzer Autor nur noch von einem Schwarzen Übersetzer übersetzt werden dürfe.“

Luc van Doorslaer: Na Zwarte Piet, de Witte Vertaler.

Nach van Doorslaer gilt also die Formel: „Soziale Medien + Identitätspolitik = Faschismus feat. Kommunismus → Nur noch Schwarze dürfen Schwarze übersetzen.“

Diesen absurden Schlussfolgerungen gab Autorin und Politikerin Assita Kanko einen Tag später, am 02.03., im De Volkskraant einen weiteren Twist:

„Ist es Weißen überhaupt erlaubt, diese Gedicht-Anthologie zu lesen? Oder ist das dann auch rassistisch? Können sie sie drucken oder verkaufen? Sie laut lesen? Wo hört es auf? Können Kinder von einem Lehrer unterrichtet werden, der nicht ihre Hautfarbe hat? Dürfen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe einander heiraten, Kinder bekommen und zusammen durchs Leben gehen oder können sie die Poesie des jeweils anderen nicht verstehen wie es die Autorin dieses lächerlichen Artikels meint?“

Assita Kanko: Opinie: Ik ben tegen de culturele apartheid van de woke stemmingmakerij.

Uff. – Pause. – Wartet die Quasi-Wiedereinführung der Eugenik? Harter Tobak. – Das einzige Problem ist nur: Irgendwie steht das da alles im Text von Janice Deul nicht so wirklich drin.

Was stand denn da überhaupt?

Deul schrieb am 25.02. im De Volkskraant eine Kolumne. Nachdem sie sich in zwei Absätzen dem Lesepublikum als Autorin und Mode-Bloggerin vorstellt und Amanda Gorman nicht nur zu ihrer Lesung bei Joe Bidens Amtseinführung, sondern auch zu ihrem „fabuleuze inauguratie-look“ gratuliert, schreibt sie:

„Es gab ein langes Gezerre um die Rechte, Gorman übersetzen zu dürfen. Ein Wettstreit, den der anerkannte Verlag Meulenhoff für sich entschied. Am 20. März werden sie eine Sonderausgabe der niederländischen Übersetzung von ‚The Hill We Climb‘ und anderen Gedichten veröffentlichen, mit einer Einleitung von Oprah Winfrey und übersetzt von Marieke Lucas Rijneveld. Eine unbegreifliche Wahl, meiner Meinung nach und der von vielen anderen, die ihren Schmerz, den Ärger, ihre Frustration und Enttäuschung in den Sozialen Medien ausgedrückt haben. Harvard Absolventin Gorman, erzogen von einer alleinerziehenden Mutter und markiert als Kind ‚mit Förderbedarf‘ aufgrund einer Sprachstörung, beschreibt sich selbst als ‚dünnes Schwarzes Mädchen.‘ Und ihre Arbeit und ihr Leben sind beeinflusst von ihren Erfahrungen und ihrer Identität als Schwarzer Frau. Ist es dann – um es so höflich wie möglich auszudrücken – nicht eine vertane Chance, Marieke Lucas Rijneveld mit der Übersetzung zu betrauen? They sind weiß, non-binär, haben keine Erfahrung auf dem Gebiet und sind doch, laut Meulenhoff, die ‚Traum-Übersetzer*in‘?”

Janice Deul: Opinie: Een witte vertaler voor poëzie van Amanda Gorman: onbegrijpelijk.

Laut Deul wäre es also die „Chance“ gewesen, einer Übersetzerin of Colour Anerkennung zukommen zu lassen, ihr die Möglichkeit zu geben, sich auszuzeichnen. Ähnlich wie Gorman sich auf Bidens Vereidigung durch die Präsentation ihrer Kunst ausgezeichnet hat, hätte sich eine Übersetzerin of Colour in diesem Fall mit einer gelungenen Übersetzung auszeichnen können.

Dann also der folgenreiche Satz:

„Nichts gegen Rijnevelds Qualitäten, aber warum nicht mal eine Schriftstellerin wählen, die – eben wie Gorman – Spoken Word Artists ist, jung, weiblich und: unapologetically black?“

Janice Deul: Opinie: Een witte vertaler voor poëzie van Amanda Gorman: onbegrijpelijk.

Wie erklärt Deul diesen – wir erinnern uns an die Gleichung von van Doorslaer – identitätspolitischen Faschismus? Ungekürzt weiter:

„Wir sind von Amanda Gorman eingenommen – und das aus gutem Grund – aber wir sind blind gegenüber den Spoken-Word-Talenten in unserem eigenen Land. Nicht zu finden, sagen Sie? Nun, ich kann ein paar Namen aus meinem persönlichen Netzwerk teilen. Eine Liste, die deswegen nicht annähernd vollständig ist: Munganyende Hélène Christelle, Rachel Rumai, Zaïre Krieger, Rellie Telg, Lisette MaNeza, Babs Gons, Sanguilla Vabrie, Alida Aurora, Pelumi Adejumo. Alles Talente, die die literarische Landschaft bereichern und die oft jahrelang um Anerkennung kämpfen. Wie wäre es, würde eine von ihnen die Aufgabe übernehmen? Würde das Gormans Botschaft nicht noch stärker machen?“

Janice Deul: Opinie: Een witte vertaler voor poëzie van Amanda Gorman: onbegrijpelijk.

Dann endet ihr kurzes Meinungsstück mit einem Aufruf an den heimischen Literaturbetrieb:

„Agent*innen, Verlage, Redaktionen, Übersetzer*innen, Kritiker*innen der Niederlande, erweitert euren Blick und kommt in die 2020er. Be the light, not the hill. Heißt die Menschen willkommen, die im Literaturbetrieb lediglich marginal repräsentiert sind, öffnet eure Augen für Genres, die traditionellerweise nicht im Kanon vertreten sind, und lasst eure Ego nicht über die Kunst siegen. Talentierte Menschen of Colour müssen auch gesehen, gehört und gefeiert werden. Veröffentlicht auch ihre Arbeit, stellt auch sie an und bezahlt sie angemessen. Black Spoken Word Artists matter. Auch die heimischen.“

Janice Deul: Opinie: Een witte vertaler voor poëzie van Amanda Gorman: onbegrijpelijk.

Andere Lesarten

Nun mag ich der Einzige sein, der darin einen Aufruf an den Literaturbetrieb erkennt, der sich anderen Künstler*innen of Colours zuwenden, der sich anderen Genres (!) öffnen könnte, verbunden mit der Aufforderung die Menschen auch noch angemessen zu bezahlen. Aber leider lese ich nichts zu der technischen oder mentalen Fähigkeit Nicht-Schwarzer Übersetzerinnen oder moralischen oder rechtlichen Verboten, Gormans Text zu übersetzen.

Der Vorwurf geht vor allem an den Verlag, der sich seine „Traum Übersetzer*in“ wahrscheinlich eher aufgrund von ökonomischen Gesichtspunkten ausgesucht hat, als darüber nachzudenken, eine passende Übersetzer*in mit der Aufgabe zu betrauen. Und es ist ein Text, der die Marginalisierung von Autor*innen of Colour und die Starrheit des Kanons des Literaturbetriebs anmahnt. Deul geht es also eigentlich um eine strukturelle Veränderung. In den Worten der Autorin Sharon Dodua Otoo:

„Gerade Belletristik wird eine grenzüberschreitende Rolle zugeschrieben. Es sei eine Möglichkeit, in die Köpfe anderer Menschen zu schlüpfen. Genau deswegen wird argumentiert, dass weiße Menschen sehr wohl Schwarze Schreibende übersetzen können und müssen. Und da es sowieso keine gesetzlichen Verbote gibt, dürfen weiße Menschen in der Tat alles übersetzen. Die eigentliche Frage ist: dürfen Schwarze Menschen das auch?“

Sharon Dodua Otoo: Vor der Grenze – Über einen Übersetzungsstreit.

Sie weiß, dass es

„Selbstverständlich […] bedauerlich [ist], dass in dem konkreten Fall von Amanda Gorman zwei weiße Personen sich gezwungen sahen, auf einen Übersetzungsauftrag zu verzichten. Wenigstens genauso bedauerlich ist es jedoch, dass viel mehr ähnlich qualifizierte Schwarze Personen für den Übersetzungsauftrag nicht einmal in Frage kamen.“

Sharon Dodua Otoo: Vor der Grenze – Über einen Übersetzungsstreit.

Die Vergabe von Übersetzungsaufträgen liegt immer noch bei den Verlagen und Medienunternehmen. Und auch Otoo weiß, dass die Abbildung realer Verhältnisse sowie ein diskrimierungsfreierer Literaturbetrieb „nicht von heute auf morgen“ möglich ist. Sie weiß, dass es „nicht ausreichen [wird], einfach irgendwelche mehrsprachigen Schwarzen Personen zu finden, und diese kurzerhand als Übersetzer*innen einzusetzen.“ Nein, „Entscheidungsträger*innen sind gefordert, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob es erwünscht ist, dass der Pool an literarischen Übersetzer*innen vielfältiger wird.“

Diese Entscheidungsträger*innen rücken aber durch die Verschiebung des Diskurses aus dem Fokus der Aufmerksamkeit. Von einer Kritik an kapitalistischen Strukturen hin zu einem vulgär-primitiven Verständnis von Identitätspolitik, bei dem sich nach zwei Bier leidenschaftlich diskutieren lässt, womit das Eigentliche aber völlig aus dem Sichtfeld gerät. Die Debatte stumpft ab und es lässt sich die eine sinn- und endlose Diskussion darüber führen, welchem Individuum wir welche Freiheiten genehmigen oder entziehen.

Und jetzt?

Was machen gegen Strohmann-Rhetorik? Was mache ich, bevor ich wieder stundenlang über etwas diskutiere, was niemals Bestandteil des Arguments war? So schwer es auch ist: Ruhig bleiben, Quellen checken und höflich nachfragen, wer was wo gesagt.

Wir müssen uns nicht fragen, ob die Kunstfreiheit in Gefahr ist, wenn Studierende der Alice-Solomon-Hochschule in einer demokratischen Abstimmung ein neues Gedicht auf die Fassade der Hochschule applizieren. Wir müssen noch nicht einmal mit ihrer Auffassung von Kunst übereinstimmen. Wir müssen nicht ernsthaft darüber reden, dass Schnitzelgerichte und Saucen verschwinden, wenn ein menschenverachtender Begriff geächtet (!), nicht verboten (!) wird. (Spoiler: Das tun sie nicht.) Und Nein: Du musst nicht Nicht-Weiße Freund*innen herbeizitieren, um zu sagen, dass die das N-Wort gar nicht so schlimm finden, anstatt dich einfach zu entschuldigen.

Du darfst alles sagen. Du kannst alles sagen. Ob du es musst; ob es etwas zur Debatte beisteuert; ob es auf Widerspruch stößt; ob andere sich an die gleichen Regeln halten, wie du: Alles das ist nicht gesagt.

Teil 1 des Dossiers fragt, wieso in deutschen Feuilletons und zu allen möglichen Anlässen über die Debattenkultur selbst diskutiert wird, obwohl es ursprünglich mal Rassismus und Sexismus ging und ob diese Diskursverschiebung am Ende Meinungsfreiheit mit Meinungshoheit verwechselt?

Teil 3 fragt, warum dem Schweizer Finanzminister schlecht wird, wenn er an die Einhaltung der Menschenrechte denkt.

Das gesamte Dossier gibt’s illustriert mit Cartoons und einem Comic von Samy Challah im Heft.

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