Blog #20: Menschen nach Hanau.
Von Elizaveta Khan & Jonas Linnebank
In der Verlagsgesellschaft Stolzeaugen.books ist das Buch Texte nach Hanau erschienen. Wir haben uns mit Jamilah Bagdach, Viviane Fatoumata Camara, Wandi Wrede und Balizi Kashindi Wayloki getroffen, um über den Verlag, ihre Arbeit und die Kraft von Literatur zu reden.

Niemand kann mir das Leben, das ich vor dem 19. Februar hatte, zurückgeben. Niemand kann meinen Sohn wieder lebendig machen. Und niemand kann mir das Gefühl von Zuversicht zurückgeben, das ich hatte, als ich in dieses Land kam. Meine Hoffnung ist die Jugend. Mit ihnen gemeinsam können wir es schaffen. Das sind wir unseren Kindern schuldig, die wir in ihrem Lebensfrühling zu Grabe getragen haben. Sie haben uns diese Aufgabe hinterlassen, die wir nur alle gemeinsam meistern können. (Serpil Temiz-Unvar)
Stolzeaugen.books aus Köln hat sich dieser Aufgabe angenommen. Texte nach Hanau ist das erste Buch von Stolzeaugen.books, einer Verlagsgesellschaft ausschließlich von BiPoC, also von Menschen, „denen in Deutschland das deutsch sein, das zugehörig sein, das erwünscht sein immer wieder in Frage gestellt wird.“ Warum ausschließlich? Warum keine weißen Autor:innen gedruckt oder Lektor:innen angestellt werden?
„Man kann nicht alles haben“, sagt Jamilah Bagdach „es ist dringend notwendig, die Sichtbarkeit von BiPoC zu stärken, darum kümmern wir uns. Wenn das Gesamtgesellschaftlich gelungen ist, können gerne auch machtkritische, intersektionalitätsbewusste weiße Menschen in unserem Verlag arbeiten. Im Moment sind wir gesellschaftlich leider noch nicht so weit. Aktuell freuen wir uns, wenn Weiße unsere Bücher lesen, diese wertschätzen, eigene Perspektiven hinterfragen und unterschiedliche Formen von ‚Richtig-sein‘ anerkennen. Der Verlag basiert auf der Vision einer gemeinsamen Gesellschaft.“
Dementsprechend betont das Team, dass hier eine notwendige Arbeit für die ganze Gesellschaft geleistet wird. „Alle werden sich bewegen müssen, wenn auch nicht alle in die gleiche Richtung … Wir alle haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es eines Tag möglich sein wird, in Respekt und unangetasteter Würde, gleichberechtigt miteinander zu leben,“ heißt es in ihrem Nachwort.
Der Raum, den stolzeaugen.books eröffnet, soll eine Plattform für Menschen sein, deren Perspektiven und Lebenrealitäten gesellschaftlich und medial noch nicht ausreichend repräsentiert sind. Warum dieser Raum gerade ein Verlag geworden ist? „Weil Literatur bleibt. Weil Bücher bleiben.“ Im Klappentext heißt es für uns Leser:innen: „Mit dem Buch Texte nach Hanau halten Sie ein Zeit-Zeugnis in den Händen, welches in dieser Form einzigartig ist“. Und Wandi Wrede fügt hinzu: „Dieses Buch werde ich immer weitergeben können.“
Texte nach Hanau zeigt zum Einen, welche Narben der Rassismus an Menschen hinterlässt, die negativ von ihm betroffen sind, die getötet werden, die um tote, um geliebte Menschen trauern müssen. Im Zentrum stehen die Namen von Mercedes Kierpacz, Ferhat Unvar, Kökhan Gültekin, Fatih Saraçoğlu, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Said Nesar Hashemi, Sedat Gürbüz und Vili Viorel Păun. Die verschiedenen Texte und Autor:innen gehen unterschiedlich mit den Namen um. Es geht darum, die Namen und die Menschen dahinter nicht zu vergessen. Es geht darum den Kreislauf des ‚Schon wieder ein rassistischer Anschlag‘ zu durchbrechen. Und in Nordpol von Miedya Mahmod geht es ganz konkret darum, wie sich an Namen aktuelle deutsche Geschichte nachvollziehen lässt.
Friedrich Emil Richard Heinrich Anton Theodor
Die Buchstabiertafel nach dem Deutschen Institut für Normung ist Teil der DIN 5009-Regeln für schreibgerechtes Diktieren. Sie ist auch bekannt als Telephonalalphabet. Als Mutter Mitte der Neunziger ihren Deutschkurs in Dortmund abschloss, konnte sie sie im Schlaf auswendig.
Ulrich Nathan Viktor Anton Richard
Im Schlaf wurden mehrere Familien in den Neunzigern angezündet.
Martha Emil Richard Paula Anton Cäsar Zacharias
Daya buchstabiert bis heute alles mit diesen Namen
Kaufmann Ida Emil Richard Paula Anton Cäsar Zacharias
…
Wirklich unfassbar, dass Mutter all diese Namen gelernt hat. Fremde Namen, bloße Stellvertreterlaute, keine Menschen, die dahinterstecken. All diese Namen und Nordpol für N.
Paula Anton Ulrich Nathan
Es sind keine neue Sachen, die dort beschrieben werden. Wie es auch im Klappentext heißt: „Wir fragen uns schon lange, was es noch braucht, damit endlich gesamtgesellschaftlich ernst genommen wird: Rassismus tötet.“ Texte nach Hanau ist der Raum, in dem sich Trauer, Wut und Angst, und alles was die Autor:innen sagen wollen, ausdrücken können. Zum anderen ist das Projekt ein Ort für Hoffnung und Zusammenhalt, gegenseitige Unterstützung. Es ist auch ein Buch, „das Erfahrungen, Gefühle, und Lebensrealitäten anerkennt“, betont Jamilah Bagdach. Es wird in Worte gefasst, was viele Millionen Menschen in Deutschland in ihrem Alltag oft sprachlos ertragen müssen. „Menschen, denen es nicht weh tut, die können sich es leisten, das zu vergessen,“ sagt Jamilah Bagdach. In Texte nach Hanau werden die Stimmen derjenigen hörbar, die nicht vergessen können. Die Texte machen ihre Erfahrungen des täglichen Rassismus sichtbar – und erzeugen damit Zusammenhalt und Solidarität untereinander.
Aber was bedeutet es, wenn junge, deutsche Frauen immer noch auf Bühnen klettern müssen, um diese Solidarität einzufordern? Um dort, die ihnen abgesprochene Daseinsberechtigung einzufordern und um Dinge zu erklären, die sie von einem ‚normalen‘ Leben einer Anfang Zwanzigjährigen abhalten? „Ich bin müde,
aber ich gehe noch nicht von der Bühne,“ sagt Wandi Wrede. „Denn solange wir hier sind, müssen sich die Menschen reflektieren. Wir sind ein ‚Siehst du was du tust? Schau einfach mal hin!‘ Und ich bin kein Fan davon zu sagen: Ich geh jetzt und unterhalte mich gar nicht mehr mit weißen Menschen. Gibt es ja auch, und das ist auch gut so. Aber das ist nicht meine Attitude. Aber wenn dann einer kommt und meint: ‚Ist doch alles gar nicht so schlimm‘, dann denke ich mir: Ciao, nächster. Tu nicht so, als ob du noch nie von Rassismus gehört hast. Wenn die Menschen höflich fragen ‚Kannst du mir das nochmal erklären? Wie fühlst du dich?‘, dann gibst du mir wenigstens die Chance auch mal zu sagen: Scheiße fühle ich mich.“
Die nächste Veröffentlichung von stolzeaugen.books wird der erste Band einer intersektionalen Kinderbuchreihe mit sexualpädagogischem Ansatz, in der eine Familie of Color im Zentrum steht. Es gibt schon viele wundervolle Bücher auch mit nicht-weißen Held:innen. Bis aber die Gesellschaft, in der wir leben, abgebildet ist, gibt es noch sehr viel zu tun. Das soll sich in Zukunft ändern. Und wir sind gespannt und erwarten die für den Juni geplante Veröffentlichung Samira, und die Sache mit den Babys.
(Die ist ein Artikel aus der aktuellen Ausgabe der KLiteratur, die ihr hier bestellen könnt. Zum Druckdatum war das neue Buch noch nicht erschienen. Das hat hat sich mittlerweile geändert. Ihr könnt es hier bestellen. Texte nach Hanau gibt es hier.)